Geschichte der SPD in Ober-Roden 1890 bis 1980
Inhalt
- Gründung des Wahlvereins
- Die ersten Gemeinderäte
- Vorkriegs- und Kriegszeiten
- Gründung Konsumverein
- 99 Jahre Wahlkreis(e)
- SPD Ober-Roden
Gründung des Wahlvereins am 13.4.1890
Die Gründung des „Wahlvereins für volksthümliche Wahlen“ von Ober-Roden erfolgte am 13. April 1890. Die erste Vorstandswahl war am 20. April 1890; mit 21 Stimmen wurde Joseph Weber V. zum Ersten Vorsitzenden, mit 18 Stimmen Adam Keller zum Zweiten Vorsitzenden gewählt. Weitere Vorstandsmitglieder wurden Jakob Brehm mit 16 Stimmen und Georg Mackert mit 15 Stimmen. Zum Kassierer wurde Adam Brehm ernannt. In der zweiten Mitgliederversammlung am 4. Mai 1890 wurde das Lokal Blasius Graf als Vereinslokal bestimmt und die Versammlungen jeweils für den ersten Sonntag im Monat auf 3 Uhr (= 15 Uhr) festgesetzt.
1972 wieder aufgefunden: Protokolle 1890-1929
Mit diesen Angaben beginnen die schriftlichen Aufzeichnungen des SPD-Ortsvereins Ober-Roden, etwa 500 handschriftlich gefüllte Protokollseiten in zwei Bänden aus den Jahren 1890-1929. Jahrzehntelang galten sie als verschollen. Erst Ende 1972 fanden sich diese unersetzlichen Dokumente für die örtliche Geschichte der Arbeiterbewegung durch einen Zufall wieder – auf dem Speicher der Bau- und Möbel-Schreinerei Rickert/Fecher, Erzbergerstraße 8. Der 1946 verstorbene Vorsitzende der SPD Ober-Rodens vor 1933, Franz Wunderlich, entzog sie so im Zusammenwirken mit dem Möbelschreiner Rickert dem Zugriff der Nazis. Das Versteck geriet in Vergessenheit. Ein Zufall hat die Protokolle zusammen mit mehreren ebenfalls versteckten Büchern wieder zutage gefördert; Franz Fecher, inzwischen Inhaber der Schreinerei, übergab sie wieder der SPD.
Schon früher ein Lassalleanischer Arbeiterverein?
Zwar soll es in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, also schon vor Erlass des Sozialistengesetzes, in Ober-Roden einen Lassalleanischen Arbeiterverein gegeben haben. Dies ist jedoch bis heute nicht dokumentarisch nachweisbar. Johann Baptist Hornung (genannt „Bach-Jean“, 1882—1955) schreibt dazu in seinen 1947 verfassten Aufzeichnungen „Geschichte der Arbeiterbewegung von Ober-Roden“: „Wenn auch die Saat, einmal von Lassalle ausgestreut, lange Zeit zum Aufblühen brauchte, so muss doch festgestellt werden, daß die Ideen von Lassalle es waren, die den Sieg über den im Jahr 1863 in Frankfurt gegründeten Verband Deutscher Arbeitervereine unter bürgerlichem Einschlag und der Mitführung Bebels davontragen konnten. Das Einsetzen geistiger Kämpfe reifte auch das in der Industrie tätige Proletariat, und es ist zu verzeichnen, dass sich, neben näher bei der Stadt gelegenen Orten, auch in Ober-Roden in der Leitung von Georg Mackert in den 70er Jahren ein Lassalleanischer Arbeiterverein gründete.
Leider sind von diesem Verein keine besonderen Kennzeichen mehr vorhanden, aber als Grundstein für die sozialdemokratische Bewegung muss das Bestehen dieses Vereins festgehalten werden. Als äußeres Zeichen des Zusammenhaltens der damals klassenerkennenden Arbeiter darf der von Arbeitern gegründete Gesangverein Harmonia genannt werden, der unter dem Zeichen der roten Fahne marschiert. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass aufgrund der immer mehr beschäftigten männlichen Arbeiter in Offenbach und Frankfurt sich die Gründung einer gesetzlichen Hilfskrankenkasse notwendig machte. Auch diese Gründung war das Verdienst von Georg Mackert, deren Vorsitzender er bis zur Auflösung und Ablösung durch die Reichs-Versicherungs-Ordnung im Jahr 1906 war.“ Dass es in Ober-Roden zum Zeitpunkt des Erlasses des „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vom 21.10.1878 sozialdemokratische Vereine bzw. Einrichtungen gegeben hat, dafür spricht auch der Hinweis, dass der im Gemeindearchiv Ober-Roden vorhandene Erlass des „Großherzoglichen Kreisamtes Dieburg an die Großherzoglichen Bürgermeistereien des Kreises“ vom 1.11.1878 den handschriftlichen Vermerk „12.11.78 erledigt“ trägt. An anderer Stelle dieser Festschrift ist der im amtlichen Kreisblatt „Odenwälder Bote“ vom 6.11.1878 veröffentlichte Erlass des Dieburger Kreisassessors Schönfeld in Reproduktion wiedergegeben.
Ereignisse 1890
Die Gründung des Wahlvereins von Ober-Roden fiel in eine bewegte politische Zeit. Zum Jahreswechsel beunruhigte der „Elberfelder Sozialistenprozess“ die Öffentlichkeit. Im Februar besiegte der Sozialdemokrat Ulrich in der Stichwahl den Nationalliberalen Böhm und holte den Wahlkreis Offenbach-Dieburg für die Sozialdemokraten zurück; im Reich verdreifachten sich die sozialdemokratischen Sitze (1887: 11, 1890: 35 sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete). Im März legte die Internationale Arbeiterschutzkonferenz ihre Empfehlungen vor, um den schlimmsten Auswüchsen der Arbeiter-Ausbeutung, insbesondere der arbeitender Kinder, Jugendlicher und Frauen, entgegenzutreten. Im gleichen Monat kam es zur spektakulären Entlassung Bismarcks als Reichskanzler durch Wilhelm II. Im April wurde im Großherzogtum Hessen ein Gesetzentwurf zum Ausbau der Eisenbahnen vorgelegt, der auch die Einrichtung der Nebenstrecke Ober-Roden-Dreieichenhain vorsah. Gemäß Beschluss des internationalen Sozialistenkongresses 1889 in Paris sollte erstmals der 1. Mai 1890 als Demonstrationstag der internationalen Solidarität der Arbeiterschaft begangen werden. Fünfeinhalb Monate nach Gründung des hiesigen „Wahlvereins“ fällt am 30.9.1890 das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Der „Wahlverein für volksthümliche Wahlen“ von Ober-Roden nennt sich fortan „Sozialdemokratischer Wahlverein“.
Die ersten sozialdemokratischen Gemeinderäte
Von der Mitgliederversammlung des Wahlvereins am 11.12.1898 ist der folgende Beitrag des Vorsitzenden Joseph Weber V. aufgezeichnet: „Nach 25-jährigem Kampfe ist es doch einmal der Arbeiterschaft gelungen, einige Vertreter in den Gemeinderat zu bringen. Vor 6 Jahren konnte man aufgrund des Wahlprogramms unserer Klasse 3 Sitze im Gemeinderat einräumen. Es sei aber von allen Seiten der Arbeiterschaft Ober-Rodens schon das Verlangen gestellt worden, einmal von der Tätigkeit der Gemeinderatsmitglieder unterrichtet zu sein… um einmal Rücksprache zu nehmen, wie dieselben sich zu den gegenwärtigen Situationen stellen, nämlich dem allseitigen Verlangen, die Sitzung des Gemeinderats öffentlich tagen zu lassen … Er führte unter anderem an, wie sich nur die 3 Vertreter dazu herbeiließen, diese horrende Summe von 50-tausend Mark zum Kirchenbau zu bewilligen… Und wenn man doch soviel Geld hat, um dem lieben Gott ein Haus zu bauen, so muß auch Geld herbeigeschafft werden, um den armen Arbeitern, die hier in den schlechtesten Wohnungen leben müssen und einen hohen Mieth aufbringen müssen, Arbeiterwohnungen zu bauen. Und er stellte im Interesse der hiesigen Arbeiterschaft den Antrag, die Gemeinderäte aufzufordern, dort im Gemeinderat den Antrag auf Erbauung von Arbeiterwohnhäusern zu stellen. Wenn kein Geld vorhanden sei, so solle man sich nur an die Alters-Invaliden-Versicherung wenden, welche bereitwillig zu solchen Zwecken die Anleihen bietet. Was den Antrag auf die Öffentlichkeit der Sitzungen anbelangt, so sollte man darauf bedacht sein, daß bei Erbauung eines uns bevorstehenden neuen Schulhauses gleich ein Saal errichtet wird, in welchem die Sitzungen stattfinden könnten. Desgleichen besprach er in längeren den Gemeindebrunnen an der Schule sowie die schlechte Einrichtung des Schulbaues selbst… Für den Brunnen ohne Wasser hätte man 3 mit Wasser erhalten, das heißt, wenn man damals es besser verstanden hätte oder verstehen wollen. Gemeinderatsmitglied (Franz) Berker erklärt sich mit den Anforderungen von Seiten der Wähler einverstanden, desgleich Wilhelm Weber und (Johann) Hitzel, welche jedoch alle 3 bedauern, daß manchmal Dinge in der Gemeindeverwaltung gemacht würden, wo sie gar nicht informiert sind…“
Ins Gefängnis für „rohe Redensarten“
Am 16. Juni 1898 fand eine Reichstagswahl statt, bei der Carl Ulrich gleich im ersten Wahlgang mit mehr Stimmen gewählt worden ist, als seine Mitkandidaten vom Centrum, der Nationalliberalen und der Antisemitischen Partei zusammen erhalten haben. Für einen Ober-Röder hatten die Wahlauseinandersetzungen weniger angenehme Folgen.
Der „Odenwälder Bote“ vom 30. Juli 1898 berichtet: „ORo. Gelegentlich der letzten Reichstagswahl hatte der Sozialdemokrat Franz Neuhäusel dahier eine Centrumsveranstaltung in gröblichster Weise zu stören versucht und sich dabei in rohen Redensarten gegen die Geistlichkeit ergangen. Vom Schöffengericht zu Langen wurde Neuhäusel nunmehr wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt zu 2 Monaten, wegen Hausfriedensbruchs zu 7 Wochen Gefängnis verurtheilt.“
1908 erste Mai-Demonstration in Ober-Roden
Das Protokoll der Mitgliederversammlung vom 11.4.1908 führt u. a. aus: „Der Vorsitzende Hornung eröffnete die Versammlung um 9.30 Uhr … Genosse Weber erstattete sodann Bericht vom Gemeinderat über unsere beiden Anträge: Plakattafeln und Lehrmittel der Schulkinder. Der Antrag, Plakattafeln anzubringen, ist im Gemeinderat angenommen. Die Lehrmittel der Schulkinder zum Selbstkostenpreis wurden auch angenommen, und zwar vom Jahre 1909 an. Die Versammlung erklärt sich mit dem Bericht befriedigt … Zu Punkt Maifeier stellte der Vorstand den Antrag, dieselbe wie alljährlich zu begehen. Dieser Antrag wurde abgelehnt und ein Antrag von G. Rink und Merget, ein Demonstrationszug zu halten, wurde mit großer Majorität angenommen. Hierzu soll mit den uns nahestehenden Vereinen eine kombinierte Sitzung mit je einem Mitglied abgehalten werden. Die Versammlung spricht sich noch gegen das Verhalten der Hauptvorstände beider Organisationen aus, nämlich daß die Kosten der gemaßregelten Arbeiter am 1. Mai die Lokalorganisationen tragen…“
1912-1918: Vor- und Kriegszeit
Aus dem Protokoll der Mitgliederversammlung am 21.1.1912 „Der Vorsitzende Hornung eröffnete die Versammlung um 1 3/4 Uhr im Gasthaus „Zum Engel“. Auf der Tagesordnung standen folgende Punkte:
I. Jahresbericht des Vorstandes
II. Jahresabrechnung
III. Vorstandswahl
IV. Die verflossene Reichstagswahl
V. Verschiedenes
Jahresbericht gab Genosse Hornung, woran sich eine lebhafte Diskussion knüpfte. Die Versammlung war mit der Tätigkeit des Vorstandes einverstanden. Es fanden nämlich statt: 9 Mitgliederversammlungen — der durchschnittliche Besuch der Versammlungen betrug 51 Mitglieder —, 7 öffentliche Versammlungen, 6 Wähler- und 1 Frauenversammlung, 20 Vorstandssitzungen. Verbreitet wurden 2.700 Flugblätter, 550 Broschüren und verkauft wurden 45 Neue Weltkalender. Der Stand der Parteipressen betrug „Offenbacher Abendblatt“ 151, „Volksstimme“ 2, „Vorwärts“ 1, „Gleichheit“ 14, „Wahrer Jacob“ 18. Als Punkt II gab Genosse J. L. Hörner die Jahresabrechnung, woran sich einige Anfragen richteten, sonst aber von der Versammlung gutgeheißen wurde … Das Ergebnis der Vorstandswahl war als 1. Vorsitzender Johann Baptist Hornung, als 2. Vorsitzender Franz Erter, als Kassier J(ohann) L(eopold) Hörner, als Schriftführer Philipp Krickser, als Beisitzer Adam Schrod XIII. und Franz Rebell. Als IV. Punkt Reichstagswahl gab der Vorsitzende Genosse Hornung Bericht. Als V. Punkt Verschiedenes gab der Vorsitzende bekannt, daß wahrscheins in allernächster Zeit eine Bürgerversammlung stattfindet, wo über die jetzigen Bahnhofverhältnisse gesprochen werden soll, wozu die beiden Vertreter Ulrich und Übel dazu eingeladen werden sollen … Schluß der Versammlung 3 1/2 Uhr. Philipp Krickser, Schriftführer.“
Die SPD Ober-Roden und der Erste Weltkrieg von 1914/18
Zwischen dem 16.5.1914 und dem 11.7.1920 klafft in den Aufzeichnungen der SPD Ober-Roden eine Lücke. Am 16.5.1914 sprach im Mainzer Hof nochmals Ludwig Rink aus Urberach über die „Notwendigkeit der politischen Organisation“. Es wurde ein neuer Vorstand gewählt, mit Philipp Mieth I. an der Spitze, Adam Schrod XIII. als Stellvertreter, Johann Hörner als Kassierer, dem Schriftführer Adam Euler sowie als Beisitzer Philipp Schrod und Philipp Marder. Aber eine Versammlung oder Sitzung ist danach nicht mehr verzeichnet. Sechs Wochen danach ist in Europa Krieg. Hornung schreibt in seiner „Geschichte der Arbeiterbewegung von Ober-Roden“: „Es kam der Weltkrieg 1914/18. Bis zu dieser Zeit war der Arbeitergesangverein das hauptsächlichste Bindeglied der Arbeiterbewegung am Orte, wurde am meisten bekämpft und hatte dementsprechend die meisten Opfer zu bringen. Die Tätigkeit des Vereins wurde brachgelegt, indem fast alle Soldaten wurden. Folgende Sangesgenossen starben im Felde: Adam Euler, Johann Kummerant, Heinrich Gotta, Franz Beck und Christian Schleinkofer. Beck, Franz wurde von Pfarrer Gallei sogar das Sterbegeläute versagt. Ehre ihrem Andenken!“
Gründung und Geschichte des Konsumvereins in Ober-Roden
Daraufhin kaufte man in der Dieburger Straße 79 einen Bauplatz und baute 1927 eine zweite Filiale. Lagerleiter dort wurde ein Genosse namens Kurt Obermeder aus Sprendlingen. In dieser Zeit verlegte der Konsumverein Sprendlingen seinen Sitz nach Frankfurt/Main. Bis dahin war der Konsum eine echte Genossenschaft. Des öfteren hatten die örtlichen Konsumgenossenschaften Delegierte zu Versammlungen zu entsenden und dort ein echtes Mitspracherecht. Aber schon Ende der zwanziger Jahre wandelte sich der Konsum in ein von Direktoren geleitetes Unternehmen. 1933 wurde er wie alle Arbeiterorganisationen aufgelöst, das Vermögen von den Nazis beschlagnahmt. Nach 1945 wurde erneut versucht, den Konsum unter dem Namen „Co op“ zu begründen. Neben der katholischen Kirche wurde ein Haus gekauft und 1965 neu gebaut. Die Konsumgenossenschaft konnte aber angesichts der Entwicklung zu Supermärkten und Discountläden ihr örtliches Filialsystem nicht aufrecht erhalten. Der örtliche Konsum musste geschlossen werden. Die Genossenschaftsmitglieder bekamen ihre Geschäftsanteile zurückgezahlt.
99 Jahre Wahlkreis(e) „Dunnerkeil“
Eine jahrhundertalte Tradition
Im Wahlkreis „Dunnerkeil“ ist 1980 eine fast jahrhundertalte Tradition zu bewahren. In seiner alten Form besteht der Reichstags-Wahlkreis Offenbach/Dieburg zwar schon lange nicht mehr, aber weder Wahlkreis-Neugliederungen, noch die Auskreisung der Stadt Offenbach und auch keine Kreisreform unserer Tage haben das in gemeinsamer politischer Arbeit entstandene Zusammengehörigkeits-Bewusstsein der Sozialdemokraten dieses Raums hinfällig werden lassen. Dies ist der traditionsreichste sozialdemokratische Wahlkreis des ehemaligen Großherzogtums Hessen. Er umfasste Stadt und Kreis Offenbach sowie im wesentlichen den früheren Kreis Dieburg. In der Reichstagswahl 1881 wurde er erstmals von einem Sozialdemokraten, von Wilhelm Liebknecht, erobert, neben Ferdinand Lassalle und August Bebel die bedeutendste Kristallisations-Persönlichkeit der politischen Arbeiter-Organisation in Deutschland. Seitdem hat der bis dahin als national-liberale Domäne geltende Wahlkreis den Namen „Dunnerkeil“. Der hessische Großherzog persönlich soll der Namensgeber gewesen sein, indem er sich mit diesem Kraftwort „Luft zu verschaffen“ suchte, ob der Wahl eines Sozialdemokraten in seinem Großherzogtum. Das erste Verbot aller sozialdemokratischen Vereine und Einrichtungen war zu diesem Zeitpunkt gerade drei Jahre in Kraft und begann sich gegen seine Urheber zu richten. Bei den Reichstagswahlen 1884 wiederholte Wilhelm Liebknecht seinen Erfolg. Dies wäre nicht möglich gewesen ohne aufwendige und mühsame Überzeugungsarbeit, gerade im Dieburger Bereich. Carl Ulrich, späterer hessischer Staatspräsident, berichtet in seinen Lebenserinnerungen, unter welch schwierigen Bedingungen besonders im vorderen Odenwald für die Ziele der sozialdemokratischen Parteien gearbeitet werden musste. 1873 hatte er auf der Wanderschaft erstmals Bekanntschaft mit Offenbach gemacht, blieb dann ab August 1874 untrennbar mit Offenbach und Hessen verbunden. Um den Wahlkreis zu gewinnen, musste erreicht werden, dass der schon bei der Reichstagswahl 1877 bestehende deutliche sozialdemokratische Vorsprung in Stadt und Kreis Offenbach (7.298 Stimmen für Liebknecht, 5.600 Stimmen für den National-Liberalen Dernburg in der Stichwahl) nicht weiterhin durch die Ergebnisse im Kreis Dieburg ins Gegenteil verkehrt wurde. Carl Ulrich hatte entscheidenden Anteil daran, dass dies 1881 erstmals gelang. Der gelernte Eisendreher wirkte ab 1875 als Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen, die in der Verbotszeit (1878-1890) mehrfach unter neuem Namen erscheinen mussten: zunächst als „Neue Offenbacher Tageszeitung“, dann als „Offenbacher Tagesblatt“ (1886 verboten), eine Zeitlang als „Offenbacher Sonntagsblatt“ und schließlich als „Offenbacher Abendblatt“, das bis zum zweiten Verbot der Sozialdemokratischen Partei 1933 bestanden hat. 1890 trat Carl Ulrich selbst als Kandidat der Sozialdemokraten im Wahlkreis „Dunnerkeil“ an und siegte in der Stichwahl gegen den National-Liberalen Gustav Böhm mit über 2000 Stimmen Vorsprung. Damit wurde der Wahlkreis Offenbach-Dieburg sozialdemokratisches „Stammland“. Hinzuzufügen ist, dass Wählerschichten in den ehemals Kurmainzischen Orten, also die katholisch orientierten Zentrumswähler, bei den regelmäßig erforderlichen Stichwahlen zwischen national-liberalen und sozialdemokratischen Kandidaten sich massenhaft für die Sozialdemokraten Liebknecht bzw. Ulrich entschieden haben. Da halfen keine anders orientierten Wahlaufrufe der Zentrumsführer, daran änderten auch Kanzel-Erklärungen nichts. Der Schock des „Kulturkampfes“ (1871—1875) wirkte hier lange nach. Die National-Liberalen hatten die Repressalien gegen die katholische Kirche und ihre Einrichtungen — wenn auch vorwiegend auf das Königreich Preußen beschränkt — ebenso parlamentarisch gestützt wie in den Jahren 1878—1890 das brutale Verbot aller sozialdemokratischer Organisationen im Reich parlamentarisch zu verantworten. Das ließ zusammenrücken. Die örtlichen Ergebnisse der Reichstagswahlen 1877—1898 sind in diesem Zusammenhang recht interessant. Sie sind im folgenden erstmals zusammengestellt, soweit sie sich bisher haben ermitteln lassen.
Die Reichstagswahlen 1877 bis 1881
Reichstagswahl 10.1.1877: Örtliche Ergebnisse des ersten Wahlgangs konnten bisher noch nicht ermittelt werden. Die örtlichen Ergebnisse der Stichwahl sind jedoch überrraschend. Der Wahlkreis ging trotz hohen sozialdemokratischen Vorsprungs in Stadt und Kreis Offenbach an den Redakteur der Nationalzeitung, den National-Liberalen Dernburg.
Reichstagswahl 30.7.1878: In dieser Stichwahl konnte Dernburg den Wahlkreis mit knappen 597 Stimmen nochmals behaupten. Der erstmals mögliche örtliche Vergleich zwischen beiden Wahlgängen dieser Reichstagswahl belegt, dass die katholischen Wähler des ersten Wahlgangs für den Sozialdemokraten Wilhelm Liebknecht votiert haben.
Reichstagswahl 27.10.1881: Erstmals in dieser Reichstagswahl errang Wilhelm Liebknecht das Mandat als Sozialdemokrat in einem Reichstagswahlkreis des Großherzogtums Hessen, ein Ergebnis systematischer mühsamer politischer Überzeugungsarbeit gerade in den Gemeinden des vorderen Odenwalds, die bis dahin Hochburgen der National-Liberalen gewesen waren.
Die Reichstagswahlen von 1884 bis 1890
Reichstagswahl 28.10.1884: Wilhelm Liebknecht verteidigte das 1881 erstmals gewonnene Mandat. In der Reichtagswahl 1887 fiel es jedoch nochmals an die National-Liberalen.
Reichstagswahl 21.2.1887: Johann Baptist Hornung schreibt dazu in seiner 1947 verfassten „Geschichte der Arbeiterbewegung von Ober-Roden“: „Ich erinnere mich noch an die Reichstagswahl 1887 (Faschingswahl, wo der alte Genosse Wilhelm Liebknecht in Ober-Roden, wie im ganzen Kreis, nicht reden durfte, er sich aber doch im überfüllten Wirtslokal — im heutigen „Schützenhof‘ — den Wählern vorstellte und in Unterhaltung redete. Am Schlusse überreichte er den Parteianhängern seine Photographie.“ Liebknecht unterlag Böhm und vertrat in den Jahren danach einen Wahlkreis der Stadt Berlin im Reichstag.
Reichstagswahl 20.2.1890: Erstmals gewann Carl Ulrich den Wahlkreis, den er jahrzehntelang im Reichstag für die Sozialdemokraten vertreten hat.
Die Reichstagswahl von 1898
Besonderheiten dieser Wahl sind, dass Ulrich bereits im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt wurde, aber auch die Verdrängung der National-Liberalen im Wahlkreis auf Platz 3, bei Stärkung der Stellung des Centrums. Die Rückschläge der National-Liberalen korrespondieren mit der Entstehung und dem Anwachsen antisemitischer Kräfte, die erstmals 1893 mit einem eigenen Kandidaten zur Reichstagswahl im Wahlkreis aufgetreten sind. Zu den 13 Reichstagswahlen der Jahrzehnte 1871 bis zum Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 ist anzumerken, daß ausschließlich männliche Deutsche, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten, wahlberechtigt waren. Personen, die aus öffentlichen Mitteln „Armen- Unterstützung“ erhielten, blieben ebenfalls vom Wahlrecht ausgeschlossen (Ulrich schildert in seinen Lebenserinnerungen, wie in Offenbach städtisch beschäftigte Arbeiter noch in den 90er Jahren als Almosen-Empfänger klassifiziert worden sind, um ihnen das Wahlrecht vorzuenthalten). Die notwendige Einschreibung in das Wählerverzeichnis hatte tagsüber zu erfolgen und führte ebenso zu Verdiensteinbußen wie die Ausübung des Wahlrechts selbst — der Wahltag lag stets werktags.
Wahlkreise in der Weimarer Republik
In der Weimarer Republik war für die Reichstagswahlen ein reines Proporzsystem gültig. Das Reich war ein einziges Wahlgebiet, die Wahlkreise hatten nur den Charakter einer Regional-Gliederung zur besseren Ermittlung des Wahlergebnisses. Ganz Hessen-Darmstadt bildete einen solchen Wahlkreis, in dem (bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919) 9 Abgeordnete zu wählen waren. Bis zum Jahr 1930 gehörte Carl Ulrich für Hessen-Darmstadt dem Reichstag an. An seine Stelle trat 1930 Heinrich Ritzel, 1949-1963 Bundestags-Abgeordneter des Wahlkreises Dieburg. Für den 1930 verstorbenen Dr. Eduard David, der seit 1903 Reichstagsmitglied und 1919 Präsident der Weimarer Nationalversammlung gewesen ist, rückte im Januar 1931 Wilhelm Weber, geboren 4.2.1876 in Ober-Roden, in den Reichstag nach. Dritter sozialdemokratischer Reichstags-Abgeordneter für den Wahlkreis Hessen-Darmstadt war ebenfalls seit 1930 Dr. Carlo Mierendorff, der in der Nazizeit lange Jahre in KZ-Haft und im Widerstand gegen das Hitler-Regime aktiv war.
Das Wahlverfahren in der Bundesrepublik Deutschland
Das Wahlverfahren in der Bundesrepublik Deutschland wurde als Mischverfahren von Verhältnis-Wahlrecht und Mehrheits-Wahlrecht konstruiert. Zwar findet auf Ebene der Bundesländer eine Verrechnung nach dem Verhältnis-Wahlrecht statt, die Hälfte der Bundestagsabgeordneten wird aber mit den sog. Erststimmen nach dem Mehrheits-Wahlrecht gewählt. So erstanden die alten Wahlkreise des Kaiserreichs neu, wenn auch in verändertem Zuschnitt.
Der alte Wahlkreis „Dunnerkeil“
Der alte Wahlkreis „Dunnerkeil“ wurde zweigeteilt. Die Stadt Offenbach und der größere Teil des Kreises Offenbach wurden zusammengefasst (Wahlkreis Offenbach), zum anderen der Südost-Teil des Kreises Offenbach, der frühere Kreis Dieburg und neu hinzugefügt der Odenwaldkreis (Wahlkreis Dieburg). Beide Bundestags-Wahlkreise sind in Wahrung der „Dunnerkeil“-Tradition sozialdemokratisches Stammland geblieben. 1961—1969 vertrat der spätere hessische Sozialminister Dr. Horst Schmidt den Wahlkreis Offenbach, seit 1972 war Manfred Coppik dort direkt gewählter Bundestags-Abgeordneter. Im Wahlkreis Dieburg, dem wir zugehören, war bis 1963 Heinrich Ritzel direkt gewählter Abgeordneter, 1963 bis 1976 Willi Bäuerle, nach 1976 unser früherer Landrat des Kreises Dieburg, Heinrich Klein.
Der SPD-Ortsvereinsvorstand 1980
Der SPD-Ortsvereinsvorstand im Jahr 1980 bestand aus:
v.l.n.r. sitzend: Heinz Eyßen, Vorsitzender Dietmar Zimmermann, Ortsbezirks-Vorsitzende Susanne Müller, Pressewart Karl-Heinz Oberfranz, Stellv. Vorsitzender Jochen Zeller; v.l.n.r. stehend: Gerhard Weber, Eckart Sänger, Stellv. Vorsitzender Norbert Schultheis, Dr. Siegfried Bartels, Stellv. Kassierer Detlef Schmid, Christa Zimmermann, Ortsvereinskassierer und Vorsitzender des Ortsbezirks Urberach Herbert Schrod, Ernst Schröder und Schriftführerin Marianne Gräser.
Der SPD-Ortsbezirksvorstand 1980 bestand (ohne Gruppenfoto) aus:
Vorsitzende: Susanne Müller
Vorsitzender: Gerhard Weber
Schriftführerin: Christa Zimmermann
Beisitzer: Joachim Braun, Günter Frieß, Theo Frieß, Siegfried Lenkeit und Jochen Zeller
weiter zur Geschichte von Urberach